Auf Tagungen im deutschsprachigen Raum wird die Akademisierung der Gesundheitsberufe in der Schweiz gerne als Musterbeispiel und Erfolgsmodell dargestellt. Mitarbeitende der Fachhochschulen haben Aufbau und Konsolidierung als unaufgeregten, weitgehend störungsfreien und konstruktiven Prozess mit vielen Chancen und Opportunitäten erlebt. In der Tat waren die äusseren Bedingungen günstig, auch weil die öffentliche Hand grosszügig neue Gebäude und Ausstattungen sowie personelle und finanzielle Ressourcen für die Erfüllung der vier Grundaufträge «Ausbildung», «Forschung», «Weiterbildung» und «Dienstleistungen» mit langfristiger Perspektive zur Verfügung stellte. Im Grossen und Ganzen könnte man sich also entspannt zurücklehnen und mit Freude feststellen, dass die Akademisierung der Gesundheitsberufe ein Wunschkind ist, das sich in 15 Jahren prächtig entwickelt hat und Karriere macht.
Dennoch – bei Lichte besehen waren die Entstehung und Konsolidierung kein Sonntagsspaziergang. Weil das Online-Symposium VFWG die Frage nach dem Modellcharakter der Schweizer Akademisierung der Gesundheitsberufe für Deutschland aufwirft, wird im Folgenden nachgezeichnet, dass nicht alle Stakeholder-Kategorien ein solches Wunschkind haben wollten. Weil die Argumentationslinien und Fronten ähnlich verliefen wie in Deutschland, lassen sich einige Lehren ziehen (Zillesen 2011).
Die Bildungspolitik im Gesundheitswesen der Schweiz war bis 2006/2007 mehrfach fragmentiert. Der Bund war schon seit 1874 für die Medizinalberufe (Human-, Veterinär- und Zahnmedizin, Pharmazie und Chiropraktik) zuständig. Die Kantone hatten die Kompetenz für die Ausbildung und einheitliche Diplome aus zwei Gründen dem Bund abgegeben: es ging darum, den „Nähr- und Wehrstand“ zu schützen. Zum einen gefährdeten Seuchen die Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Industrie, zum andern hatte ein kurzes Bürgerkriegsintermezzo offengelegt, dass in der Armee die Gesundheit von Soldaten und Tieren nicht mehr sichergestellt werden konnte. Regulierung und Aufsicht wurden dem dafür geschaffenen Bundesamt für Gesundheit im Departement des Innern übertragen.
Gesundheitsberufe für Frauen waren wie die Berufsbildung insgesamt Sache der Kantone. Weil in der Regel die Spitäler, konfessionelle Träger oder Stiftungen das Personal ausbildeten und Verbände die spezifischen Weiterbildungen leisteten, reichten eine kursorische Aufsicht und mehr oder weniger knappe Subventionen. In dieser Gemengelage entstanden mehrere hundert zumeist kleine lokale Berufsschulen – ähnlich wie sich die Situation derzeit in Deutschland präsentiert. Weil sich die Gesundheitsminister der Kantone aber nicht durchringen konnten, dem Bund auch die Regulierungskompetenz für diese Berufe zu übertragen, wurde das Rote Kreuz mit der Qualitätssicherung beauftragt. Dabei gab es eine Hidden Agenda: Die Gesundheitsberufe sollten auf Bundesebene nicht dem für die Berufsbildung zuständigen Wirtschaftsdepartement unterstellt werden – ihre Stellung sollte höher angesetzt sein als die gewerblich-industriellen oder kaufmännischen Berufe.
Um die Jahrtausendwende gab es mehrere beachtliche Regulierungsschritte, weil der Bund Leadership übernahm und in kurzer Zeit und mit breiter Unterstützung die Berufsmaturität und die Fachmaturität einführte, welche neben dem gymnasialen Bildungsweg neue Zugänge zu den Hochschulen ermöglichten.
2004 ist ein total überarbeitetes Der Bund erhielt die Zuständigkeit für alle Berufsbereiche ausserhalb der Hochschulen. Damit wurden die Gesundheitsberufe der Sekundarstufe II und der Tertiär-B-Stufe in die dual ausgerichtete schweizerische Berufsbildung mit Schule sowie Praxis- und Arbeitsmarktbezug eingefügt. Mit einer Bildungssystematik und dem Leitmotiv „Kein Abschluss ohne Anschluss“ wurden mehrere Zugangswege und Nachqualifikationen für die Hochschulen angelegt. In diesem Gesetz wurde allerdings mit der Höheren Fachschule auf der Tertiär-B-Stufe auch ein helvetischer Sonderfall für einige Gesundheitsberufe geschaffen, der insbesondere für die Pflege in der deutschsprachigen Schweiz bis heute immer wieder Irritationen erzeugt und zur Erzeugung von Gegenwind gegen die Akademisierung instrumentalisiert wird.
2004 wurde ebenfalls das aus den neunziger Jahren stammende
2006 haben die Schweizer Stimmbürger einer
2007 ist das
2009 wurden die
2011 wurde die Neuordnung der Hochschullandschaft Schweiz im
2014 haben die Schweizer Stimmbürger einer weiteren
2016 wurden mit dem neuen
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass seit dem Jahr 2000 ein Wechselspiel von initiativen, hartnäckig agierender Persönlichkeiten in Bildung und Politik, dem Druck von aussen durch die Bilateralen Verträge mit der EU, der inneren Kräfteverschiebung von föderaler zu Bundeszuständigkeit und auch eine taktisch geschickte Abstimmung der Rechtsetzung eine günstige Situation für eine kohärente bildungspolitische Neuordnung schuf. Der Umstand, dass es fast 20 Jahre dauerte, um die vielen Baustellen und die Partikularinteressen einzusortieren, macht eine Besonderheit der schweizerischen Bildungspolitik deutlich: Es braucht immer einen langen Atem und eine Abfolge von kleinen, mehrheitsfähigen Schritten und den Tatbeweis. Die Akademisierung wurde nicht nur als Blase im Elfenbeinturm realisiert, sondern lieferte Professionals, die gerne rekrutiert werden und sich problemlos in die Strukturen der Versorgung einfügen. Der Wille, diese Wunschkinder endlich zu bekommen, war immer auch mit der Toleranz entscheidender Akteure in Politik und Gesundheitswirtschaft verbunden, dies zuzulassen.
In der Schweiz werden 7,6 % der gesamten öffentlichen Ausgaben und 5,4 % des Bruttoinlandprodukts für Bildung ausgegeben. Der Bund hat seit 1950 die Subventionen an die Bildungsstätten kontinuierlich erhöht. Allein seit 1990 hat sich der Anteil des Bundes an den öffentlichen Bildungsaufgaben verdreifacht. Weil die Zuständigkeit laut Verfassung bei den Kantonen liegt, haben die Bundesparlamentarier Instrumente erfunden, um die Geldströme in ihre Kantone zu lenken: Investitionsbeiträge für Bauten und Infrastrukturen, Nutzungsbeiträge für Mieten und Instandhaltung, Grundbeiträge in der Höhe von 20 % bei den Universitäten und 30 % bei den Fachhochschulen, diverse direkte und indirekte Beiträge für Forschung und Entwicklung, Beiträge für besondere Aufgaben und Dienstleistungen, Beiträge an Projekte von gesamtschweizerischer Bedeutung, Finanzhilfen für Organisationen der Weiterbildung, Harmonisierungsbeiträge für Stipendien und Darlehen u. a. m. (Bundesrat, 2020, S. 20ff).
Dass die Schweiz der Bildung auf Tertiärstufe eine grosse Bedeutung zumisst, belegen die Vergleiche der OECD. Dabei zeigt sich, dass pro Studierende/n rund 50 % mehr öffentliche Mittel investiert werden als in Deutschland und Österreich (vgl. Abb. 1).
Der Fachbereich «Gesundheit» hat für die vier Grundaufträge «Ausbildung», «Forschung», «Weiterbildung» und «Dienstleistungen» von Bund und Kantonen im Jahr 2020 rund 250 Mio. € erhalten, die zu über 80 % in die Grundausbildung flossen.
Die Kosten pro Studierende/n belaufen sich im Fachbereich Gesundheit auf rund 30.000 €/Jahr. Der Wohnkanton bezahlt rund 15.000 €/Jahr, der Bund etwas weniger. Die Studiengebühren betragen rund 1500 €/Jahr. Die Kostenbeteiligung der Studierenden ist für die Finanzierung der Studiengänge von untergeordneter Bedeutung, beträgt sie doch lediglich 11 % (Frey et al., 2019).
Obschon sich die Finanzierungsinstrumente mit komplexen Finanzströmen eingespielt haben, schwelt ein politischer Verteilkampf. Noch immer reden Vertreter der Höheren Berufsbildung davon, dass die Fachhochschulen Gesundheit Konkurrenten seien, die eine Vorzugsbehandlung erhalten. Auf den ersten Blick gibt es gewiss eine erhebliche Differenz in der Mittelzuteilung, weil die Tertiär-B-Ausbildungen mit 9200 €/Jahr ein Drittel weniger erhalten. Allerdings beträgt der Anteil Schule im dualen Modell nur 50 % der Ausbildungszeit, und der Leistungsauftrag umfasst primär nur Ausbildung. Der periodisch aufkommende Gegenwind bringt immer wieder das Argument der Benachteiligung auf den Tisch. Die Lobbyisten aus der Höheren Berufsbildung preisen ihren Weg als billigere Lösung mit höherem Direktnutzen für die Praxis an, weil die Absolvierenden in den Betrieben angestellt sind. Teile der Gesundheitswirtschaft stützen dies mit dem Argument, dass die Hochschulen die Löhne in die Höhe treiben und die Höhere Berufsbildung kosteneffektiver sei. In der Praxis ist die Kontroverse verebbt. Auch wenn in der Schweiz zwischen den Sozialpartnern Lohnbandbreiten ausgehandelt werden, gibt es nicht einen gewerkschaftlichen Tarif, der alle gleich (schlecht) behandelt. Mit der steigenden Anzahl von Hochschulabsolventen/-innen werden deren Kompetenzen zur Verbesserung der Versorgung, des Nutzens für die Patienten sowie auch der höheren Wertschöpfung erkannt und differenziert genutzt. In den meisten Betrieben gibt es deshalb Funktionslöhne, welche die Kompetenzen und Potenziale individuell abgelten.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im bildungsfreundlichen Klima in der Schweiz weder Investitionsvorhaben für Bauten noch die mehrjährigen Rahmenkredite oder die jährlichen Budgets Anlass für kontroverse Debatten auf nationaler und kantonaler Ebene geben. Der Bund übernimmt annähernd die Hälfte der Kosten und trägt damit die bildungspolitische Neuordnung finanziell mit. Zudem greifen die Versuche der Höheren Berufsbildung nicht, eine angebliche Diskriminierung geltend zu machen und die inzwischen gut etablierten und geschätzten Studienangebote der Fachhochschulen zu schwächen. Bei den Bildungsangeboten zeigt sich, dass die Absolvierenden mit den Füssen abstimmen und insbesondere CAS/DAS/MAS-Weiterbildungen der Hochschulen gegenüber den Kursen der Höheren Berufsbildung bevorzugen.
Der Akademisierungsprozess der Gesundheitsberufe ist durch den internationalen Austausch angestossen worden. Studienaufenthalte und Promotionen von Pionierinnen in angelsächsischen oder skandinavischen Ländern mit jahrzehntelanger Erfahrung und einschlägiger Bildungs- und Versorgungsforschung haben gezeigt, was Standard bei der Berufsausübung und der professionellen Positionierung sein könnte.
Entsprechend wird seit nunmehr über 20 Jahren von den Promotoren der Fachhochschulen Gesundheit ein Argumentarium über Mehrwerte vorgetragen: Dort werden Fachpersonen ausgebildet, die mit einer erweiterten fachlichen Expertise, reflexiverer Berufsausübung sowie gesteigerter Effektivität und Effizienz mehr Patientenund Systemnutzen erzeugen. Man könne erwarten, dass sie an den intra- und interprofessionellen Schnittstellen wirkungsvoller agieren, in der sektorenübergreifenden Versorgung mehr Leadership zeigen und an Professions-und Systementwicklungen gestaltend mitwirken können. Die Absolventen/-innen seien in der Lage, professionsspezifisch und berufsgruppenübergreifend Aufgaben insb. in den Bereichen Beratung, interprofessionelle Zusammenarbeit, Projektarbeit, wissenschaftliche Recherche, Konzeptentwicklung und Expertentätigkeiten zu übernehmen, die über das hinausgehen, was von den an Berufsfachschulen ausgebildeten Kollegen/-innen geleistet werden kann. Konsequenterweise wurde postuliert, dass der
In der bildungs- und gesundheitspolitischen Diskussion wurde dieser Diskurs meist harsch gekontert (vgl. Tabelle 1).
Pro- und Contra-Argumente.
Mit taxonomisch höheren Kompetenzen wird die Performanz in der Praxis gesteigert, weil Interventionen wirksamer sind Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Befunden führt zu besseren Behandlungskompetenzen |
Akademiker/-innen sind dafür überqualifiziert, sie betreiben abgehobene Sozialromantik und wollen Reservate zur Selbstverwirklichung Sie verstehen die ökonomischen Zwänge nicht, sie betrachten diese als Störfall, der ihre Privilegien und Komfortzonen einengt |
F&E ermöglicht Evidenz-basiertes Handeln Die Absolvierenden verstehen sich als Teil einer globalen Scientific Community, weil sie Studien in Journals lesen und verstehen Hochschulbildung fördert die Dialogfähigkeit und verringert Fehler an Schnittstellen |
Akademisierung führt weg vom Patienten Betriebe wollen ausbilden, wen sie brauchen; wichtig ist Personalbindung mit einem spezifischen „Stallgeruch“ Zentral ist unmittelbare Beschäftigungsfähigkeit; „Studierte“ sind nicht praxistauglich |
Sie ermöglicht internationale Anerkennung und erhöht die Attraktivität der Berufe Absolventen/-innen können Programme zur Mobilitätsförderung nutzen und Erfahrungen aus anderen Ländern kennenlernen |
Hochschulbildung führt in die Akademi sierungsfalle, führt zu „Dr. Arbeitslos“ Mit den Fachhochschulen werden die Berufsbildung und das Duale System unattraktiv gemacht |
Bachelor/Master in den G-Berufen schafft eine formale Gleichwertigkeit mit der Medizin Grade Mix/Skill Mix und Professionsmix werden einfacher, weil hochschulisch Ausgebildete komplexer denken und auf Augenhöhe dialogfähiger sind |
Hochschulabschlüsse weichen die Verantwortlichkeiten auf Advance Practice schafft konkurrierende Leistungserbringer, welche Patienten/-innen verunsichern; Ärzteverband FMH, Hausärzte und Kassen sind teils kritisch |
Qualifikation und Kompetenz rechtfertigen ein Wegkommen von ärztlicher Delegation Hochschulabsolventen/-innen können selbstverantwortlich Befunde interpretieren, Interventionen anordnen und Fälle steuern Hochschulabsolventen/-innen sind ausreichend verantwortungsbewusst, um selbstständig mit Kassen abzurechnen |
Solche Forderungen schaffen Sonderzonen mit vorbehaltenen Tätigkeiten Es entstehen unnötige und nicht indizierte Doppelspurigkeiten und Überlappungen, die Unsicherheiten und Widersprüche schaffen Es gibt primär eine Mengenausweitung, die einen unkontrollierbaren Kostenschub auslöst |
In der Zwischenzeit haben sich die Wogen geglättet und in der Praxis ist ein pragmatisches Miteinander entstanden. Es hat sich gezeigt, dass Hochschulabsolventen/-innen beim Berufseinstieg bei direkt patientenbezogenen Maßnahmen Defizite gegenüber der Berufsbildung haben. Bei den Kompetenzdimensionen Planen/Steuern/Evaluieren, Beraten und Informieren, Patientenedukation, Qualitätssicherung, wissenschaftliche Fundierung und interprofessionellem Austausch haben sie dagegen Vorsprünge. Der Umstand, dass die Defizite i. d. R. nach einem halben Jahr überwunden sind und sie komplexe Fälle übernehmen, widerlegte die Befürchtung, dass „Hochschule vom Patienten wegqualifiziert“.
In der Gesamtschau ist bemerkenswert, dass Geist und Diskurs der Fachhochschulen die Wissenschaftlichkeit und Spezialisierung deutlich stärker betonen als ihre potenzielle Rolle bei der Verbesserung der Grundversorgung. Dabei hatte es in der Gesundheits- und Bildungspolitik mehrere offene Türen, um Gesundheitsberufe in Versorgungslücken zu positionieren, die angesichts der Hyper-Spezialisierung und dem Verlust generalistischer Kompetenz in der Medizin augenfällig sind. Angesichts des Opportunitätsfensters und des ausgerollten Teppichs wirkten der prononcierte Distinktionsduktus von Hochschulvertreter/-innen, das Silodenken zur Stärkung der Professionen, die Anstrengungen zum Erfüllen von Kriterien der
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die von den Fachhochschulen reklamierten Mehrwerte immer wieder von unterschiedlichen Akteur- und Lobbygruppen bestritten werden. Die Gegenargumente hören sich allerdings inzwischen eher wie kraftlose Monologe in Parallelwelten an – außer bei der Pflege, wo die „Pflegeinitiative“ kontraproduktiv wirkt (
Die Entwicklungen in der Schweiz können wegen den rechtlichen und konzeptionellen Unterschieden nicht als Blaupause für die Akademisierung der Therapie und Pflegeberufe in Deutschland herangezogen werden. Bestenfalls können einige Elemente punktuell zur Reflexion der Strategien genutzt werden.
Vorab muss aber auch das „Deutsche Paradox“ thematisiert werden, nämlich der gesetzlich festgeschriebene Mythos der Aufrechterhaltung einer qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung durch approbierte Ärzte/Ärztinnen mit einer Vielzahl von vorbehaltenen Tätigkeiten und von einem riesigen Heer von „Heil-Hilfsberufen“, welches assistiert und nur auf ärztliche Anweisung arbeiten darf. Die Erfahrungen in anderen Industrieländern liefern genügend Evidenz, dass es im Gesundheitswesen eine differenziertere Nutzung der Workforce braucht.
Diese Evidenz gibt es auch in Deutschland. Insbesondere die VAMOS-Studie in NRW (Dieterich et al., 2019) erbringt den Nachweis, dass die sogenannte „Modellklausel“ für die Akademisierung obsolet ist. Die Verbleibstudie mit den drei Teilpaketen Beschäftigung und Verbleib; Kompetenz und Performanz; Sicht der Arbeitgeber/-innen und Employability zeigt deutlich, dass der eingeschlagene Weg bei allen Indikatoren (Aufgaben und Beschäftigungsmerkmale, Kompetenznutzung und Qualifikationsadäquanz, Zufriedenheit und Akzeptanz, Berufseinmündung und -ausübung sowie Zukunftsperspektiven) tragfähig in die Zukunft weist. Es werden effektiv Kompetenzen erworben, um in einer Gesellschaft des langen Lebens und der ungesunden Lebensstile fach- und sachgerecht mit chronischen und instabilen Krankheitsverläufen umzugehen sowie um an den kritischen Schnittstellen über Professions- und Systemgrenzen hinweg wirksam zu arbeiten.
Auf dem politischen Parkett müsste man also nur wollen. Konkret: Die bildungspolitischen, rechtlichen und standespolitischen Vorbehalte und Hürden, die ungenügende fachliche und finanzielle Anerkennung sowie die instabilen Rahmenbedingungen mit fehlenden Perspektiven müsste die Politik angehen wollen. Aus der Schweiz kann diesbezüglich Folgendes mitgenommen werden:
Es braucht ein kohärentes Bundesrecht, welches die Zwecke und Ziele von Ausbildungen in einer Gesamtschau zueinander in Beziehung setzt – ein solcher Es braucht Visionäre, die Bildung im Gesundheitswesen als staatliche Aufgabe mit übergeordneter nationaler Steuerung begreifen – diese müssen Stellschrauben erfinden, um bildungspolitische Prozesse auszulösen und Instrumente zu schaffen, welche den Bildungsföderalismus und die Bürokratie überwinden. Es braucht substanzielle Bundesgelder – ein Dialog über Zielvorgaben könnte ein griffiges Instrument in Koalitionsverträgen sein.
Die Blockade auf der Makroebene, die regulatorische Zwangsjacke und die überbordende Bürokratie stellen gewiss massive externe Hindernisse dar. Aber auch die Fachhochschulen und die Berufe müssen durch dezidierte „Führung von unten“ ihr Wirken reflektieren:
Braucht es wirklich dieses Drängen nach Anerkennung als Profession mit Referenz zur Medizin? Es versetzt die Therapie- und Pflegeberufe in die Rolle von Bittstellern und „Aspiranten“. Muss die Ausbildung derart stark mit identitärer Sozialisation verknüpft werden? Im Ergebnis festigen Hochschulen hergebrachte Haltungen, Parzellierung und das Gegeneinander. Könnten koordinierte Abschlusskompetenzen – ähnlich wie in der Schweiz – hilfreich sein? Anstelle detaillierter Vorgaben stimulieren sie Systemdenken und interprofessionelle Versorgung. Sollen sich Abschlussarbeiten vorab mit Fertigkeiten und Professionalität beschäftigen? Die Innenorientierung verspielt die Chance, im Lernlabor systemische Innovationen zu denken. Sind die direkten, indirekten und Opportunitäts-Kosten tabu? Damit wird vermittelt, dass alle therapeutischen Interventionen Sollen Therapie- und Pflegeberufe einen Platz in der Grundversorgung beanspruchen? Versorgungsforschung hilft, subalterne Positionen und diskriminierende Gesetze zu überwinden. Darf man denn nicht weiterdenken als es die Berufsgsetze erlauben? Die Ausrichtung auf unmittelbare Beschäftigungsfähigkeit macht die Absolventen/-innen zu Einzelkämpfern für das Wohl der Patienten/-innen und für ihre eigene ökonomische Absicherung.
Fachhochschulen betrachten diese politische Reflexion kaum als einen ihrer Aufträge. Wenn das Zweckmäßige und Notwendige jahrzehntelang vertagt wird, wirft das Aussitzen und Strampeln in behördlich verfügten Sackgassen Fragen auf nach den Opportunitätskosten für das Land und die Patienten – und den Verantwortlichkeiten dafür (Höppner und Sottas, 2020). Da sind Hochschulen auch als gesundheitspolitische Advocacy-Agenturen gefordert. Es wird entscheidend sein, Studierende an die Gesundheitspolitik heranzuführen, damit sie auch lernen, Allianzen mit Persönlichkeiten in Politik, Gesundheitswirtschaft und Verwaltung zu formen. Damit erreichen sie nicht nur eine bessere Honorierung, sondern auch Systemrelevanz.